Die Auferstehung des Widerrufsrechts? Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs dürften zahlreiche Verbraucherkreditverträge widerrufbar sein - EuGH, Urt. v. 26.03.2020 – C-66/19

Rechtsanwalt und Notar Malte Beuster • 3. Juni 2025

Kurzinfo zum Bank- und Kapitalmarktrecht Nr. 16 / 02. April 2022

Was hat der EuGH entschieden?

In seinem Urteil vom 26. März 2020 (Az.: C-66/19) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Verbraucherverträge die Modalitäten für die Berechnung der Widerrufsfrist in klarer und prägnanter Form angeben müssen. Es reiche nicht aus, dass der Vertrag als Pflichtangaben, deren Erteilung an den Verbraucher für den Beginn der Widerrufsfrist maßgeblich ist, im Wege einer „Kaskadenverweisung“ auf eine nationale Vorschrift verweist, die selbst auf weitere nationale Rechtsvorschriften verweist.


Worum ging es bei dem Rechtsstreit?

Gegenstand des Rechtsstreits war die Frage, ob ein Verbraucher seinen im Jahr 2012 mit einer Sparkasse geschlossenen Verbraucherdarlehensvertrag widerrufen könne.

Im Jahr 2012 hatte ein Verbraucher bei einer Sparkasse einen grundpfandrechtlich gesicherten Kredit über 100.000 Euro mit einem bis zum 30.11.2021 gebundenen Sollzinssatz von 3,61% pro Jahr aufgenommen.

Unter der Überschrift „Widerrufsinformation“ hieß es im Vertrag:  

„Widerrufsrecht

Der Darlehnsnehmer kann seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen ohne Angabe von Gründen in Textform (z. B. Brief, Fax, E-Mail) widerrufen. Die Frist beginnt nach Abschluss des Vertrags, aber erst, nachdem der Darlehnsnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB (z. B. Angaben zur Art des Darlehens, Angaben zum Nettodarlehensbetrag, Angabe zur Vertragslaufzeit) erhalten hat. …“

Anfang 2016 erklärte der Verbraucher gegenüber der Sparkasse den Widerruf seiner Vertragserklärung. Die Sparkasse ist der Ansicht, dass sie den Verbraucher ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt habe und dass die Frist für die Ausübung dieses Rechts bereits abgelaufen gewesen sei.


Warum wurde der Rechtsstreit vor dem EuGH verhandelt?

Der Verbraucher hatte vor dem Landgericht Saarbrücken geklagt. Dieses stellte sich die Frage, ob der Verbraucher über die Widerrufsfrist korrekt informiert worden sei und hat daher den Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie über Verbraucherkreditverträge (RL 2008/48/EG) ersucht.

Zwar sehe diese Richtlinie vor, dass sie nicht für grundpfandrechtlich gesicherte

Kreditverträge gelte. Der deutsche Gesetzgeber habe jedoch die Wahl getroffen, die Regelungen der Richtlinie auch auf derartige Verträge anzuwenden. Das Landgericht hat daher die Auffassung vertreten, dass eine Anrufung des Europäischen Gerichtshofs zur Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich sei. Der EuGH hält seine Anrufung für legitim, um eine einheitliche Auslegung der deutschen Rechtsvorschriften zu gewährleisten.

 

Was ist der Inhalt des EuGH-Urteils?

Der EuGH hat in seinem Urteil festgestellt, dass Verbraucherkreditverträge in Auslegung der Richtlinie in klarer und prägnanter Form die Modalitäten für die Berechnung der Widerrufsfrist angeben müssen, weil die Wirksamkeit des Widerrufsrechts anderenfalls ernsthaft geschwächt werden würde. Es reiche nicht aus, dass ein Kreditvertrag hinsichtlich der Pflichtangaben, deren Erteilung an den Verbraucher für den Beginn der Widerrufsfrist maßgeblich ist, auf eine nationale Vorschrift verweist, die selbst auf weitere Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats verweist. Dies laufe der Richtlinie zuwider. Für den Fall einer solchen Kaskadenverweisung könne der Verbraucher auf der Grundlage des Vertrags weder den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtung bestimmen noch überprüfen, ob der von ihm abgeschlossene Vertrag alle nach dieser Bestimmung erforderlichen Angaben enthält, und erst recht nicht, ob die Widerrufsfrist, innerhalb derer er handeln muss, für ihn zu laufen begonnen hat. 
 

Was bedeutet das Urteil für die Vertragsparteien?

Nachdem zahlreiche Verbraucher in Zeiten der Niedrigzinsen ihre Kreditverträge gekündigt hatten und es zu einer Flut von Rechtsstreitigkeiten gekommen war, hatte der Gesetzgeber mit der am 21. März 2016 in Kraft getretenen Wohnimmobilienkreditrichtlinie das „ewige Widerrufsrecht“ für Altverträge aus der Zeit vom 01.08.2002 bis 10.06.2010 zum 21.06.2016 enden lassen.

Verbraucherdarlehensverträge, die nach dem 11.06.2010 abgeschlossen wurden, können jedoch weiterhin widerrufen werden, wenn die Widerrufsbelehrung unwirksam ist. Dies könnte unter Berücksichtigung des aktuellen EuGH-Urteils für zahlreiche Darlehensverträge der Fall sein.

Für Immobiliendarlehensverträge, die ab dem 21. März 2016 abgeschlossen wurden gilt jedoch erstens eine Höchstfrist. Danach können sie gemäß § 356b Abs. 2 S. 4 BGB lediglich noch innerhalb einer Frist von einem Jahr und 14 Tagen nach Vertragsschluss bzw. Übergabe des Darlehensvertrages widerrufen werden (der jeweils spätere Zeitpunkt gilt). Und zweitens kommt es für das Widerrufsrecht von Immobiliendarlehensverträgen zudem nur noch darauf an, dass der Vertrag oder eine Kopie übergeben wurde und über das Widerrufsrecht belehrt wurde. Die bisherigen Pflichtinformationen nach § 492 Abs. 2 BGB i. V. m. Art 247 §§ 6- 13 EGBGB sind für das Widerrufsrecht direkt nicht mehr von Bedeutung.

Ob und inwieweit ein Verbraucherdarlehensvertrag widerrufen werden kann, ist somit weiterhin im Einzelfall zu prüfen. Auf Grundlage des jüngsten EuGH-Urteils dürften jedoch zahlreiche Verbraucherdarlehensverträge, die im Zeitraum von 11. Juni 2010 bis 20. März 2016 geschlossen wurden, widerrufen werden können. 

 

Für weitere Fragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gern zur Verfügung. 

gez.
Malte Beuster              
Rechtsanwalt & Notar
Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht                
             

Download:  Die Auferstehung des Widerrufsrechts? 


Redaktion:

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